Patientenbericht zur Psychotherapie bei einer Anorexie / Essstörung
Eine 25-jährige Patientin mit einer atypischen Anorexia nervosa schildert hier ihre Entwicklung. Kurz vor Beginn der Behandlung wog sie bei einer Körpergröße von 1,70m noch 52 kg. Noch drei Kilogramm an Körpergewicht weniger und die Patientin hätte das volle Bild einer Anorexia nervosa aufgewiesen.
Vor der Therapie
Jeden Morgen der Gang zur Waage und das Hoffen darauf, wieder an Gewicht verloren zu haben, so sah für mich lange Zeit der Beginn eines jeden Tages aus. „Ich bin zu dick und muss abnehmen. Meine Körper ekelt mich an und passt nicht zu mir. Da muss ich was machen.“Diese Gedanken verfolgten mich in jeder Sekunde, in jedem Atemzug und steuerten meinen kompletten Tagesablauf. Es fing alles ganz harmlos an, indem ich mit einer Diät und mit dem Sport nach einer langen Lernphase wieder begonnen hatte. Mein Ziel war es von den 62 Kg wieder auf meine 57 Kg zu kommen. Doch dann kam alles anders, ich nahm jeden Tag immer mehr und immer schneller ab. Die Waage wurde mir in manchen Situationen wichtiger als alles andere. Ich ließ Mahlzeiten aus. Immer mehr Lebensmittel wurden von mir auf die „Verbotene Liste“ gesetzt. Ich verzichtete immer mehr auf Süßigkeiten. Ich nahm keine Zwischenmahlzeiten mehr zu mir. Es endete damit, dass ich das Abendessen komplett ausließ und meine tägliche Kalorienaufnahme bei ungefähr 900 Kcal lag. Ich konnte meinen Studiumsalltag schon nicht mehr richtig bewältigen, weil es mir einfach an Energie fehlte. Ich war so schlapp, dass ich ab 19Uhr auf dem Sofa eingeschlafen bin und bis morgens durchgeschlafen habe. Es startete ein Selbstlaufmechanismus, eine Art Teufelskreis, der meinen Willen lähmte und die Kontrolle über mich nahm. Ich verlor so viel an Gewicht, dass es schließlich meiner Familie und meinem Freund stark auffiel, nur mir schien es scheinbar nicht aufzufallen. Mein Blick hatte sich bereits so sehr verzerrt, dass ich meine „Problemzonen“ (Oberschenkel, Po) noch immer als zu dick und ekelig wahrnahm. Nach einem Gespräch mit meinen Eltern und einer Darminfektion, die mir nochmals einige wichtige Kilos nahm, beschloss ich eine Therapie zu beginnen. Nicht nur das Untergewicht haben mir das Leben schwer gemacht, sondern nun fing schon mein Magen-Darm-Trakt an zu streiken und zudem blockierten mich die permanenten Gedanken um das Essen oder auch Nicht-Essen, so dass das soziale Leben auch nicht mehr stattfinden konnte.
So kam es, dass ich durch das Internet auf die Praxen von Frau Dr. Wien und Frau Dr. Weidmann aufmerksam geworden bin. Nach einem Telefonat wurde schnell ein Kennenlern-Termin vereinbart und meine Therapie hat somit im März 2008 begonnen mit einem Startgewicht von 53 Kg.
Während der Therapie
Die ersten fünf Sitzung dienten der Diagnostik. Ich musste Fragebögen ausfüllen, die ausgewertet wurden. Frau Dr. Wien stellte mir viele Fragen über mein Essverhalten, meine Sichtweisen dazu, meine Kindheit, meine Familie, meine momentane Gefühlslage und natürlich auch nach meinem aktuellen Gewicht.
Es stellte sich schnell heraus, dass ich unter einer Form von Anorexie (Magersucht) litt und auch die Auswertung des Fragebogens zeigte deutlich, dass mein Leidensdruck, meine Fremdbestimmtheit und auch die Unsicherheit im Leben deutlich über dem Normalwert lagen.
Frau Dr. Wien und ich errechneten meinen Grund- und meinen Energieumsatz sowie meinen derzeitigen BMI und vereinbarten für den weiteren Verlauf ein Gewicht, mit dem mein BMI- Wert wieder in den Normalbereich kommen sollte.
Ich fertigte eine Liste mit Pro und Contragründen an, warum ich essen sollte. Natürlich bekam ich jede Woche als Hausaufgabe auf, an Gewicht zuzunehmen, was nicht immer klappte. Dennoch fühlte ich mich niemals zu sehr unter Druck gesetzt. Das Zunehmen gestaltete sich über die gesamte Therapiezeit als das eigentliche Übel. Es war sehr schwer von Woche zu Woche mein Gewicht zu steigern.
Frau Dr. Wien übergab mir die Aufgabe, Essprotokolle der ganzen Woche anzufertigen, damit sie und auch ich einen genaueren Überblick über mein Essverhalten bekamen und zudem mein Blick für ein ausgewogenes Essverhalten und eine richtige Kalorienaufnahme erfolgen konnte. Gleichzeitig gingen wir jede Woche zusammen essen. Voraussetzung war es immer, etwas für mich „Verbotenes“ zu essen. Während des Essens erfragte Frau Dr. Wien immer wieder meinen Anspannungsgrad auf einer Skala von 1 bis 10 (10 bedeutete eine kaum auszuhaltende Anspannung).
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ca. 1,5 Kg an Gewicht gewonnen. Im nächsten Schritt arbeiteten wir zusammen an meiner Selbstwahrnehmung. Dazu wählte Frau Dr. Wien die Technik der Spiegelkonfrontation. In einigen Doppelsitzungen musste ich mich entweder in Bademode oder engen, kurzen Klamotten vor den Spiegel stellen und mich darin anschauen. Ich durfte meinen Blick dabei nicht abwenden. Währenddessen hat Frau Dr. Wien einzelne Körperteile von mir angesprochen und bat mich, diese genauer zu beobachten, zu beschreiben, aber nicht zu bewerten. Dabei begann sie bei den für mich weniger schlimmen Körperteilen (Ohren, Stirn, Mund, Augen etc.) und arbeitete sich immer weiter Richtung Oberschenkel und Pobereich. Diese Übung war für mich sehr schwer und auch sehr anstrengend, da ich genau das machen musste, was ich zu Hause vor meinem Spiegel immer vermieden hatte: meine Problemzonen, die mich jeden Tag anekelten, zu beobachten und zu berühren. Allerdings ließen das Gefühl des Ekels, der Panik, die Gedanken des Abnehmen- Wollens und auch der verzerrte Blick, der mir immerzu bestätigte: Du bist fett!, nach. Diese Übungen sollte ich zu Hause jeden Tag alleine für mich wiederholen.
Die von mir bereits erwähnte Teufelkreisspirale erklärte mir Frau Dr. Wien im weiteren Therapieverlauf immer wieder. Es wurde mir irgendwann erstmalig klar, dass ich, ohne einen massiven Schritt gegen die innere Stimme der „Sucht“ in mir, nicht aus dieser Spirale heraustreten kann. Ich versuchte jeden Tag bei der Auswahl meines Essens gegen diese Stimme anzugehen, versuchte zuzunehmen und immer mehr verbotene Lebensmittel wieder in meinen regulären Essensplan zu integrieren. Doch oftmals genügte ein wenig Stress, um wieder in meine alten Verhaltensmuster zurück zufallen. Ist doch auch einfacher, denkt man sich selbst! Dem ist jedoch nicht so. Mit jedem Schritt, den man zurück fällt, fällt man mehr in die wohl schlimmst „Sucht", die es gibt und die auch oft tödlich enden kann. Mit jedem Schritt, den man sich nicht wehrt, verliert man immer mehr an eigener Kontrolle. Der eigene Glaube: „Ich habe alles unter Kontrolle und kann jederzeit mit dem Abnehmen aufhören!“ ist leider nur die tückische Folge einer Anorexie und demzufolge auch die Ursache dafür, dass man eben nicht damit aufhört und immer dünner wird.
Nach den Übungen zur Selbstwahrnehmung widmeten wir uns meinem Selbstbild. Frau Dr. Wien malte mir dazu einen Tisch auf, der nur auf vier Beinen einen festen Stand hat. Übertragen auf meine Situation bedeutete dies, dass mein Selbstbild, also mein ganzes Leben, derzeit etwas wackelte, da ich anscheinend nicht genau wusste, wie viel Gutes ich in meinem Leben eigentlich hab und mein Tisch hauptsächlich auf zwei Füßen, nämlich Figur und Leistung, stand. Nachher sah mein Tisch anders aus: Ein Standbein gründete sich auf Familie, Freunde, Freund. Ein Weiteres ergab sich aus meiner Leistung (Schule, Uni, Diplom...). Ein Drittes beschrieb ich als meine Stärken und auch Schwächen und das Vierte und Letzte Standbein meines Lebens gründete sich lediglich auf die Figur. Damit wurde mir klar, was ich eigentlich bereits erreicht hatte und wie viel liebe und gute Menschen ich an meiner Seite habe, die für mich da sind. Das Standbein der Figur ist dabei nur ein kleiner Teil, aber nicht DER Teil in meinem Leben. Dieser Teil hatte so lange Zeit den Mittelpunkt in meinem Leben eingenommen, dass mir bewusst wurde, wie viel ich dafür aufgegeben hatte. Dieser Moment brachte mich in meinen Gedanken einen großen Schritt weiter.
Außerdem haben wir festgelegt, dass ich mich nur noch 2 mal in der Woche wiege, anstatt mehrmals täglich. Dies gelang mir auch erstaunlich gut, ich war sogar manchmal froh und erleichtert, nicht auf die Wage zu gehen und mein Gewicht nicht zu sehen.
Des Weiteren bat mich Frau Dr. Wien, Briefe zu schreiben. Einen an meine Freundin, die Magersucht und einen an meine Feindin, die Magersucht. Deutlich wurde hierbei, dass ich noch sehr viele Gründe fand, die sich positiv für die Sucht aussprachen, aber es gab auch schon viele Gründe, die dagegen sprachen. Nach einigen Monaten schrieb ich diese Briefe erneut und es zeigte sich ganz stark, dass die Stimme der „Sucht“ in mir langsam leiser und leiser wird. Ich fand so viele Gründe gegen die „Sucht“, nicht zuletzt, dass sie keine Kontrolle mehr über mein Leben haben und sie endlich verschwinden solle.
Dann hatte ich ein Gewicht von 56 Kg. Durch eine letzte Maßnahme gelang es mir noch an Gewicht zu zunehmen. Wir entwickelten gemeinsam ein Ampelsystem. Auf einer Tabelle zeichneten wir einen roten, einen gelben und einen grünen Bereich des Gewichtes ein. Der rote Bereich begann ab 56 Kg, der Gelbe verlief sich zwischen 57 und 58 Kg und der grüne Bereich befand sich zwischen 58 und 60 Kg. Im grünen Bereich lag demnach unser Ziel, das es zu erreichen galt. Mittlerweile wiege ich 58,2 Kg und die Angst und die Panik vor dem Zunehmen sind zwar noch in mir, jedoch nicht mehr so stark ausgeprägt und ich habe durch die Therapie gelernt, damit umzugehen. Mein Blick für meinen Körper ist normalisiert, mein Essverhalten ist nun ein Ausgewogenes und Gesundes und das spüre ich auch. Ich habe an Selbstbewusstsein gewonnen und mein soziales Leben ist entspannter geworden. Das Essen macht mir wieder Spaß und ich kann mein Leben wieder anders wahrnehmen.
Andere Dinge sind mir nun wieder wichtiger und ich habe gelernt wieder selbstbestimmter gegenüber mir und auch anderen Menschen zu sein.
Ich kann allen, die ähnliche Gedanken und Gefühle bereits in sich erkennen oder auch Angehörige, die einige Zeichen erkennen, nur raten, nicht zu lange damit zu warten, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Je länger ihr wartet, desto tiefer rutscht ihr in eure „Sucht“ hinein und alleine kommt ihr dort nicht mehr heraus. Ihr habt es nämlich nicht mehr unter eurer Kontrolle. Die Essstörung hat euch unter Kontrolle.
Ich danke Frau Dr. Wien für ihre Hilfe und ihr stets offenes Ohr! Mit ihrer Hilfe habe ich wieder erheblich an Lebensqualität gewonnen.